Absinth
Was trinken Sie denn da, Herr Bruckheim, hatte ihn Herr Fichtelberger gefragt, sein Chef, eine dürre Gestalt mit schütterem Haar und dünnem Oberlippenbart, den Bruckheim insgeheim Windhund nannte. Was trinken Sie denn da, hatte der Windhund ein weiteres Mal gefragt, mit spürbarer Erregung in seiner Stimme.
Oh nichts … Medizin, hatte der Ertappte gestottert, und sich sogleich von dannen gemacht. Und nun nahm das Chaos seinen Lauf.
Wie immer am Nachmittag, schaltete Bruckheim auf Slow Motion, um soviel Energie wie möglich zu sparen. Wie bei einem Murmeltier, das sich auf einen langen Winterschlaf einstellt, reduzierte er seine gesamte Körpermotorik, er schaltete seinen Organismus auf Sparflamme – von außen gesehen wirkte er nun wie jemand, den man hingestellt hatte, aber nicht abgeholt; ein kleiner Mann mit zu langen Armen und einem beinahe ausdruckslosem Gesichtsausdruck, wären da nicht die traurigen Augen gewesen, die nun feurig glühten. Für gewöhnlich hielt er sich meistens auch im Schatten der Überwachungskameras auf, doch langsam entfaltete das euphorisierende Nervengift des Absinths seine verheerende Wirkung. Gegen vier Uhr sah Herr Fichtelberger, der das Geschäft wie üblich vom Überwachungsraum aus beobachtete, einen beseelten Bruckheim, der blitzschnell von einem Kunden zum anderen rannte und einen lebhaften, überbeschäftigten Eindruck hinterließ. Schön schön, dachte Fichtelberger, kommt der auch mal auf Trapp, nur weiter so Herr Kollege. Gegen Fünf hatte Bruckheim die ganze Absinthflasche leer getrunken – er schlingerte nun vor und zurück, wie ein Schiff in der Hafenbrandung, das sich gerade losgerissen hatte. Wie eine Marionette taumelte er von einem Kunden zum nächsten, bis sich plötzlich aus der undefinierbaren Menschenmasse vor ihm, aus diesem Menschennebel, ein altbekanntes Gesicht herausschälte. Es war die Russin Nikita, eine rothaarige, bleich geschminkte, ältere Dame mit bösartigen, zu Schlitzen verengten Augen – eine Freundin von Chef Fichtelberger, die dieser, so vermutete Bruckheim insgeheim, durch eine Kontaktanzeige kennengelernt hatte. Bruckheim konnte sich den Wortlaut der Kontaktanzeige gut vorstellen: Dünner aber gut trainierter Windhund, leicht devot, sucht ein läufiges Dackelfrauchen mit Erfahrung, gerne dominant, zwecks mittelstrenger Erziehung … Nikita kam schnell auf Bruckheim zu. Drohend baute sie sich vor ihm auf. Von nahem sah sie noch mehr aus wie die böse, alte Hexe aus Disneys Bernhard und Bianca. Mit blutunterlaufenen Augen beugte sie sich zu ihm herab. Sie … bringen Sie mir sofort einen Trüffelhobel, habe wenig Zeit, fauchte sie ihn an. Wo ist Fichtelberger? Holen`se mir den auch!
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